„Kampf um die Erinnerung“

erschienen in Berliner Zeitung am 27. Mai 2015

„Hier saßen sie, Tag um Tag. An schmalen Werkbänken stanzten sie Kleinteile für Bügeleisen, Schicht um Schicht. Im Kesselhaus schippten sie Kohle, Stunde um Stunde. Die Unbelehrbaren, die Staatsfeinde und Widerständler, vom System dazu erklärt und weggesperrt. Weit weg vom Machtzentrum Moskau, hinter Stacheldraht. Gewissensgefangene wie der Schriftsteller Leonid Borodin, späterer Solschenizyn-Preisträger, der Bürgerrechtler Sergej Kowaljow, später erster Menschenrechtsbeauftragter unter Präsident Jelzin, oder der ukrainische Lyriker Wassyl Stus, der in einer der betonierten Isolierzellen unter nie ganz geklärten Umständen ums Leben kam. In dieser Abgeschiedenheit sollten sie vergessen gemacht werden. Irgendwo im Nirgendwo des Uralvorlandes, am Fluss Tschussowaja. Heute ist hier ein Museum, als Perm-36 bekannt. Es ist ein einzigartiges für ganz Russland, um das allerdings ein erbitterter Konflikt ausgebrochen ist.“

Der Konflikt um das Museum läuft schon weit mehr als ein Jahr und hat im Frühjahr 2015 einen neuerlichen Höhepunkt erreicht: Die Gründer-NGO, mit der es bisher völlig ergebnislose Verhandlungen gibt, wurde zum „ausländischen Agenten“ erklärt. Erst kurz zuvor hatte die Organisation den Beginn ihrer Selbstauflösung bekannt gegeben. Die Verhandlungen laufen noch – der Kampf um die Erinnerungen der Konfliktparteien auch. Sie drehen sich um ein einzigartiges Museum für Dissidenten und Gulag-Aufarbeitung im russischen Hinterland. Zugleich zeigt der Permer Konflikt im Kleinen, welche Aushandlungsprozesse über Geschichte und Selbstverständnis in ganz Russland zuletzt in Gang gekommen sind. Ich hätte noch eine Seite schreiben können. Mindestens.

„Kampf um die Erinnerung“ (PDF)

„Wie in Russland ein Kampf um die Erinnerung tobt“ (Link)

Update: Weitere Veröffentlichungen zu dem Thema gab es in der Magdeburger Volksstimme (mit Lokalbezug), bei den Salzburger Nachrichten (fürs Ipad) sowie beim Osteuropamagazin ostpol.de (Paid Content). Unterstützt wurde die Reise schließlich mit einem Stipendium von n-ost, dem Netzwerk für Osteuropaberichterstattung (Disclaimer: in dem ich auch Mitglied bin, um das Stipendium muss man sich bewerben, eine Jury wählt aus).